
Der Mond im Tau – eine japanische Tradition des stillen Staunens
Es ist noch dunkel, als das erste leise Rascheln die Stille durchbricht. Behutsam, fast wie ein Hauch, streift eine kleine Hand die Bettdecke zur Seite. Eine warme Stimme flüstert in die Dunkelheit: Komm, der Mond wartet auf uns.
Wenn der Vollmond still am Himmel steht, beginnt in Japan ein altes Ritual. Noch bevor das erste Licht den Horizont berührt, wecken Eltern oder Großeltern die Kinder. Gemeinsam treten sie hinaus in die schweigende Welt, die den Atem anhält zwischen Nacht und Tag.
Der Tau liegt schwer auf den Wiesen. Die Grashalme neigen sich unter den Tropfen. Die Luft ist kühl, dicht, erfüllt vom feinen Duft feuchter Erde. Sie gehen langsam, fast tastend. Überall auf den Halmen ruhen kleine Spiegel, und doch suchen sie nach dem einen Tropfen, der mehr trägt: das Licht des Mondes. Und dann, ohne Ankündigung, ist er da. Der Mond, geborgen in einem Tropfen, still und vollkommen.
Sie knien sich nieder, die Bewegungen leise und klein. Im Tropfen spiegelt sich der Mond, nah und unberührt.
Ein Moment, der weder eingefangen noch ausgedehnt werden kann.
Leise stellen die Erwachsenen die alte Frage:
„Was geschieht mit dem Mond, wenn der Tautropfen verdunstet?“
Keine Antwort wird erwartet. Die Frage bleibt wie sie ist: offen, leicht wie der Hauch des Morgens.
Vielleicht geht der Mond nicht verloren.
Vielleicht bleibt er dort, wo die Augen ihn gesehen, wo das Herz ihn aufgenommen hat.
Für einen Atemzug gehört die Welt nur diesem stillen Staunen.
Der Tau vergeht.
Das Licht bleibt.
Vielleicht ruht der Mond noch immer in einem Tropfen, irgendwo im stillen Gras.
Inspiriert durch eine fotografisch-philosophische Begegnung, die meine Wahrnehmung für das stille Staunen auf neue Weise geöffnet hat.