
Eine poetische Geschichte über das Zögern vor dem Blühen – und über die stille Angst vor dem Vergänglichsein im natürlichen Kreislauf des Lebens.
In einem üppig blühenden Garten, wo die Morgensonne die Tautropfen auf den Blütenblättern zum Funkeln bringt, wächst eine kleine Rose namens Rose Marie. Während ihre Nachbarn – die Tulpen, Gladiolen und Sonnenblumen – genüsslich ihre Köpfe in die warme Luft recken, hält Rose Marie ihre Knospen fest verschlossen.
„Warum blühst du nicht, Rose Marie?“, fragt Sonja, die Sonnenblume, die neben ihr wächst. „Die Sonne scheint so schön, und jeder im Garten streckt sich ihr entgegen.“
Rose Marie zögert einen Moment, bevor sie antwortet. „Ich habe Angst, Sonja. Was, wenn ich aufblühe und dann sofort verblühe? Was, wenn mein Leben nach dem Blühen sofort endet? Ich sehe, wie andere verblühen, und das erschreckt mich.“
Sonja wiegt sich leicht im Wind und lacht sanft. „Aber Rose Marie, das Blühen ist der schönste Teil unseres Lebens. Wir können die Welt mit unserer Schönheit bereichern, und selbst wenn wir verblühen, geben wir etwas zurück an die Erde, das neues Leben nährt.“
Rose Marie bleibt unsicher, und ihre Zweifel lösen sich nicht in der warmen Luft auf.
Eines Tages kommt Gärtnerin Greta, um nach den Pflanzen zu sehen. Sie bemerkt sofort Rose Maries verschlossene Knospen. „Rose Marie, warum hältst du dich zurück?“, fragt Greta, während sie sanft ihre Blätter prüft.
„Ich fürchte das Ende, Greta“, flüstert Rose Marie. „Ich fürchte, was nach dem Blühen kommt. Ich möchte nicht vergehen.“
Greta setzt sich auf die Hocke, sodass sie ihr näher ist, und sagt liebevoll:
„Rose Marie, jedes Verblühen führt zu einem neuen Anfang. Nicht zu blühen bedeutet, dass du das Geschenk des Lebens nicht vollständig annimmst. Du hast die Kraft zu blühen und die Welt um dich herum zu verschönern. Lass deine Angst nicht dein Leben bestimmen.“
Die weisen Worte der Gärtnerin hallen in Rose Marie nach, als plötzlich ein Sommergewitter aufzieht. Der Garten wird von starken Winden und Regen gepeitscht, und Rose Marie fürchtet, dass sie beschädigt wird, bevor sie überhaupt die Chance hat zu blühen. Nach dem Sturm, als die Sonne wieder durch die Wolken bricht, sieht Rose Marie, dass sie noch immer da ist – stark und unversehrt. Mit neuer Zuversicht entscheidet sie, dass es Zeit ist, sich ihren Ängsten zu stellen.
„Ich werde blühen“, verkündet sie entschlossen. Langsam, aber sicher beginnen ihre Knospen sich zu öffnen, und zum ersten Mal in ihrem Leben zeigt sie ihre wahren Farben. Die anderen Blumen im Garten jubeln ihr zu, und Rose Marie fühlt sich überwältigt von Freude und Erleichterung.
„Siehst du“, sagt Sonja fröhlich, „das Blühen ist nicht das Ende. Es ist ein wunderbarer Teil deines Seins, und wenn die Zeit kommt, wirst du mit Würde verblühen, bereit, den Kreislauf des Lebens weiterzuführen.“
Rose Marie, nun voll erblüht und strahlend, erkennt, dass das Leben, auch wenn es vergänglich ist, gefeiert werden sollte. Jeder Moment ist kostbar, und die Angst vor dem Ende sollte nie im Weg des Lebens und seiner Schönheit stehen.
Vielleicht ist es genau diese zarte Angst, die in jedem von uns wohnt – die Angst vor dem Vergehen. Und vielleicht ist es das Blühen selbst, das uns lehrt, mit ihr in Frieden zu leben.